Max Ernst hat davon berichtet, in dem er eine "unerträgliche Vision" beschrieb, die ihm ein neues Verständnis der Arbeitsweise Leonardos verschaffte. Sigmund Freud hat in seinen "Kindheitserinnerungen des Leonardo" in einer Anmerkung recht versteckt auf eine ähnliche Imagination in der "Heiligen Anna Selbdritt" hingewiesen. Und womöglich nahm auch Walter Pater Bezug auf ungewöhnliche, perspektivische Erfahrungen, wenn er in dunklen Wortwolken zum Thema Mona Lisa dichtet:
"She is older than the rocks among which she sits / like the vampire, she has been dead many times, / and learned the secrets of the grave / and has been a diver in deep seas, and keeps their fallen day about her"
Was genau, so mag manch einer sich fragen , haben diese geschichtsträchtigen Kulturheroen in den Bildern von Leonardo gesehen? Der Künstler selbst gibt uns dazu konkrete Hinweise in seinen Anweisungen für professionelle Bildproduktion:
"Und das Tuch soll so drapiert werden, dass es nicht unbewohnt aussieht, das heißt, dass es nicht aussieht wie eine Faltendrapierung, in der kein Mensch steckt, wie man es bei vielen sieht, die sich so sehr in die verschiedenen Drapierungen und Faltenwürfe vergaffen, dass sie die ganze Gestalt damit vollhängen und dabei die Wirkung vergessen..."
Kein Leonardo-Experte der Kunstgeschichte kann sich glaubhaft um das Thema Faltenwurf & Gewanddarstellung drücken. Alle haben irgendwann ihre Aufmerksamkeit auf dieses Arbeitsgebiet naturnaher Reproduktion gerichtet - neben den wahrhaft unzähligen, weiteren Arbeitsgebieten, ohne die ein Kunsthistoriker tatsächlich nicht sein kann. Irgendwie scheint Ihnen aber die Ironie in Leonardos Texten entgangen zu sein.
"Enthüll es nicht, wenn dir die Freiheit lieb ist, denn mein Angesicht ist ein Kerker der Liebe", dichtete Leonardo höchst persönlich kryptisch und bis heute unverstanden in ziemlich genau dem Zeitraum, in dem das Bildnis der Dame mit dem Hermelin entstand. Man kann sicher sein, dass er mit dieser Drohung nur seine Zeitgenossen in Angst und Schrecken versetzten wollte, weil er sich nicht sicher war, ob seine Versuchsanordnung zum Thema Wahrnehmung und dem "componimento inculto" - dem nicht ausgestalteten Entwurf - auch so funktionierte, wie er sich das vorstellte. Gleichwohl - und das ist eine der vielen interessanten Fragen - kann es eigentlich nicht sein, dass seit 1492 kein Mensch auf die gleiche visuelle Erfahrung in der Betrachtung der Dame mit Hermelin gestoßen ist, die im Folgenden beschrieben wird.
Wenn jemand sich in Sachen menschlicher Proportionen je im Detail auskannte, dann war das Leonardo. Mathematisch genau plante er seine Bilder - vermaß zuvor die Details bis auf die Zehen- und Fingerspitzen und versuchte, neue Perspektiven basierend auf den Ideen und Vorgaben seiner Vorbilder wie Alberti und anderen zu erschaffen. Natürlich standen ihm dabei die "Alten", wie sie in humanistischen Kreisen liebevoll genannt wurden, zur Seite. Vitruv, Euklid und Ovid seien hier nur exemplarisch genannt (Stichwort: Antikenrezeption). Intelligente Allegorien und Anspielungen waren zu der Zeit bekanntlich en vogue. Für Leonardo ist wie erwähnt der Seh-Sinn der wichtigste Erkenntnisapparat, über den ein Mensch sich Welt aneignet und sie erfährt. Ergo stellt er die Augen in den Mittelpunkt seiner Bildnisse - zumindest (naturgemäß) seiner Portraits.
Und genau hier wird er so akribisch, dass es Spaß macht, seinen optischen, doppeldeutigen Hinweisen zu folgen. (Das funktioniert auch ohne Infrarotkameras, Spektralanalysen und Radiokohlenstoffdatierung - man muss nur das Auge auf dem rechten Fleck haben ...)
Einige Autoren und Interpreten des Gemäldes haben vermutet, dass jemand außerhalb des Bildes als "dritte Person" indirekt durch die Blickrichtung von Cecilia und dem Hermelin angesprochen wird. Ludovico Sforza, Leonardo's Auftraggeber, sei auch der Empfänger des reizend-unbekümmerten Augenaufschlags seiner damaligen Geliebten. Das kann sein, aber diese Botschaft war eben nur für ihn als Auftraggeber und die interessierte Öffentlichkeit bei Hofe bestimmt. Hauptaufgabe der Blickrichtung ist eine Art Ablenkmanöver vom eigentlichen Hauptdarsteller des Bildes. Und der schaut (als weiterer intentionaler Hinweis Leonardo's) in die gleiche Richtung wie das Tier und die Dame!
Die beiden wichtigsten Elemente auf dem Bild sind die exakt untereinander angeordneten "Gesichter" von Cecilia und dem Hermelin. Sie ziehen die gesamte Aufmerksamkeit des Betrachters unmittelbar auf sich. Leonardo hat diese beiden zentralen Elemente auch in in ihren Proportionen passgenau in der vertikalen Ebene positioniert (im Bild links durch die beiden Quadrate angedeutet).
Zieht man eine Linie vom linken Auge Cecilia's über die Nase (!) des Hermelins nach unten, so führt die Verlängerung durch die seltsam anmutende, nach unten zeigende Pfote des Tieres.
Der Zeigefinger der rechten Hand von Cecilia deutet - als weiterer Hinweis des Künstlers - ebenfalls auf diesen Bereich des Bildes. Entgegen der Blickrichtung der beiden Protagonisten gibt es also deiktische Hinweise auf ein weiteres "Element" im Bild, das sich dem Betrachter nicht unmittelbar erschließt.
Was genau deutet das Hermelin mit seiner so eindeutig zeigenden Pfote im Bild an? Es scheint die Aufmerksamkeit auf den roten Gewandbereich im linken Oberarm Cecilia's lenken zu wollen. Hier befindet sich der typische Faltenwurf aus Licht und Schatten, auf den Leonardo in seinen Manuskripten so viel wert legte. Ein Faltenwurf, "in dem kein Mensch wohnt", war ihm wie erwähnt ein Gräuel.
Dieses Statement einmal wörtlich genommen - so ist ein Gesicht vorstellbar, das von einem Kleid, einem Tuch oder von Gewand bedeckt wird. Meist ist es die "Nase", die hier an exponierter Stellung unter dem Tuch verdeutlicht, dass es sich um ein Gesicht handeln könnte. (Man denke einfach an maskierte Personen wie Bankräuber, die sich zwecks Unkenntlichmachung Kapuzen oder Wollmützen übers Gesicht ziehen.)
Wir behaupten nun, dass das Hermelin mit seiner linken Pfote unmittelbar auf eine solcherart verdeckte Nase zeigt. Mit der rechten Pfote stützt sich das possierliche Tier dabei auf dem ebenfalls gut dargestellten Kinn unterhalb der Maske ab. Direkt darüber schmunzelt der Mund eines männlichen Gesichts vor sich hin. Einzig die Augenpartien sind nicht unmittelbar sichtbar - nur das linke Auge ist leicht mit einer Vertiefung in der Licht-Schatten-Darstellung angedeutet.
Es ergibt sich ein vollständig durch das Kleid der Cecilia "vermummtes" Gesicht, das mit den Elementen Nase, Mund, Kinn und linker Augenbereich von jedermann nach kurzer Zeit als Gesicht interpretiert werden kann.
Ist diese Erkenntnis oder Interpretation ins bildliche Bewusstsein des Betrachters vorgedrungen, ist sie fast irreversibel im visuellen Gedächtnis verankert.
Denn mit dem "Pinsel formte er seine Gewohnheiten und Gebräuche". Und vielleicht machte er sich auch ein wenig lustig über seine Zeitgenossen, denen er durch seine Kunst beweisen konnte, wozu ein Maler fähig ist.